Führung ohne Chef – die innovative Organisation von morgen
Kann ein Unternehmen in der heutigen Komplexität und Dynamik noch mit klassischen Instrumenten gesteuert werden? Ist das nicht so, als würden Sie ein Überschallflugzeug auf Sicht fliegen?
So definiert es der Werteforscher Thomas Ginter in einer Ausgabe der ManagerSeminare, das sich unter dem Motto „Tschüss, Chef!“ dem chef- und hierarchielosen Unternehmen widmet. Ein Thema, auf das sich viele stürzen, vor allem weil Agilität und Flexibilität immer wichtigere Erfolgseigenschaften werden. Auch im Kontext Innovation ist dieses Thema äußerst interessant. Diese Organisationsform bietet die notwendigen Freiräume für Innovationen und eliminiert viele Innovationsblockaden, die durch Hierarchien und schlechte Führungskultur entstehen.
Wie funktioniert das cheffreie Unternehmen?
Im „ManagerSeminare“ wurden 2 Unternehmen vorgestellt: it-agile – Experten für agile Softwareentwicklung sowie oose – Innovative Informatik
Beide bewegen sich in IT und Beratung und zählen rund 30 MitarbeiterInnen. Unter diesen Umständen kann ein chefloses Unternehmen funktionieren. Solch ein selbstorganisiertes Unternehmen kann dabei wie folgt aussehen:
- MitarbeiterInnen melden sich freiwillig zu Projekten.
- Hat keiner Interesse, wird das Projekt nicht angenommen. Somit entscheiden auch die MitarbeiterInnen, welche Projekte gemacht werden oder nicht.
- Für jedes Projekt wird ein neues Team gebildet. Wie das Team arbeitet und wer es führt, wird im Team selbst entschieden.
- Statt Abteilungen gibt es Kreise, die sich bestimmten Themen und Aufgaben widmen und jeder/jede kann in jedem Kreis mitarbeiten.
- Es wird nicht auf Führung verzichtet, sondern auf die Führungskraft. Einzelne Führungsaufgaben werden hier auf die MitarbeiterInnen verteilt.
Es gibt verschiedene Ansätze, wie Unternehmensentscheidungen getroffen werden:
- Konsens: Es wird abgefragt, ob jemand einen schwerwiegenden Einwand hat. Wenn ja, wird gestoppt.
- Mehrheitsbeschluss
- Konsultative Individualentscheidung: Ein Mitarbeiter/eine Mitarbeiterin wird beauftragt, die Situation auf Basis von Fakten und Befragungen zu analysieren und daraus die Entscheidung abzuleiten.
- Großgruppenveranstaltungen
Entscheidungen zu treffen erfordert informiert zu sein. Daher gilt die Open Book Philosophie: jeder Mitarbeiter/jede Mitarbeiterin hat Zugang zu allen Informationen, sogar zu den Gehältern, denn diese werden ebenso im Team entschieden.
Das bietet viele Freiräume. Um zu vermeiden, dass die Freiräume zu Spielräumen werden, muss es Regeln und Vorgaben geben. Ein Unternehmen hat beispielsweise die Vorgabe, dass jeder Mitarbeiter/jede Mitarbeiterin 180 Tage in Projekten leisten muss, die restlichen 40 Tage kann er/sie frei gestalten und 25 Tage sind Urlaub.
Großer Nutzen: Eigeninitiative, Motivation und Selbstregulation
Wenn die Wandlung zur Selbstorganisation gelingt – und das ist ein steiniger Weg – schöpfen Sie das maximale Potenzial an Organisationsperformance aus. Energie, Zeit und Kosten werden oft zB durch innere Kündigung aufgrund schlechter Führung oder durch das Nicht-Nutzen von Mitarbeiterpotenzialen und Skills verloren. Das alles ist in selbstorganisierten Unternehmen Vergangenheit, denn:
- Die Stärken und Interessen der MitarbeiterInnen werden voll ausgenutzt, da MitarbeiterInnen selbst Projekte anstoßen können und selbst entscheiden, wo sie mitarbeiten wollen.
- Durch Selbstverpflichtung und Eigeninitiative bringen MitarbeiterInnen höchste Motivation mit und übernehmen Eigenverantwortung.
- Die Mitarbeiterbewertung erfolgt nach dem Peer-to-Peer Prinzip. MitarbeiterInnen und ihre Stärken und Potenziale werden von KollegInnen bewertet. Dieser Gruppenmechanismus führt zur Selbstregulation, denn wer möchte schon von KollegInnen kritisiert werden.
Anstelle von Macht tritt die intrinsische Motivation, justiert durch Gruppen-Feedback und Marktanforderungen ein. Wenn MitarbeiterInnen mit Entscheidungskompetenz und Ressourcen ausgestattet werden und eine hohe Identifikation mit ihrer Tätigkeit haben, brauchen sie keine hierarchisch verortete Führung, so Thomas Ginter mit Beleg durch Studien.
Zu beachten ist, dass mit dieser Organisationsform nicht jeder Mitarbeitertyp zurechtkommen wird. Diese Herausforderung regelt sich jedoch normalerweise von selbst.
Ist der cheffreie Ansatz nicht nur was für kleine projekt-orientierte Unternehmen?
Auch wenn Ihr erster Gedanke vielleicht „ja“ ist, es besteht Hoffnung auf die Weiterentwicklung der Führungsstrukturen. Immerhin gibt es auch Beispiele von großen Unternehmen, wie der dm Drogerienmarkt mit 50.000 oder W. L. Gore mit 10.000 MitarbeiterInnen. Allerdings sind diese Unternehmen nicht vollständig selbstorganisiert wie it-agile oder oose.
Bei W. L. Gore, bekannt durch Goretex, heißen die MitarbeiterInnen Associates (Teilhaber). Sie werden nicht beauftragt, sondern verpflichten sich selbst zu einer Aufgabe und müssen dazu MitstreiterInnen finden. TeamleiterInnen werden nicht von oben bestimmt, sondern kristallisieren sich heraus. So kann es passieren, wenn ein Chef/eine Chefin schlecht führt, dass er/sie seine Führungsfunktionen durch sein Team wieder verlieren kann.
Jedes Unternehmen kann Elemente der Selbstorganisation für sich übernehmen:
- Demokratische Entscheidungen durch stärkere Mitarbeitereinbindung.
- Engagement und Motivation durch selbstgewählte Aufgaben und Projekte. Hierbei soll nicht zu streng in Bereichsgrenzen gedacht und MitarbeiterInnen abteilungsübergreifend eingesetzt werden.
- Übertragen von Führungsaufgaben auf Teammitglieder.
- Peer-to-Peer Bewertung der MitarbeiterInnen.
- Bewertung der Chefs/der Chefinnen mit der Konsequenz, dass er/sie von seinen/ihren MitarbeiterInnen abgewählt wird und jemand neues gewählt wird.
- etc.
Der erste Schritt ist mit der Einbindung von Elementen der Selbstorganisation oft einfach gestaltet. Aber es erfordert eine grundlegende Basis: eine geeignete Kultur, die von der obersten Führung gestaltet und konsequent weiterentwickelt wird.
Das Prinzip der Selbstorganisation wird für Innovationsorganisationen in Zukunft ein Muss sein. Nur so erhalten Sie die notwendigen Freiräume, Flexibilität, Geschwindigkeit und Initiative, die Innovationen erfordern.
Quelle: managerSeminare, Heft 196, Juli 2014: „Tschüss Chef! Führung ohne Führungskräfte““und Interview mit Thomas Ginter „Selbstorganisation entsteht nicht von allein“ (Seite 18 – 26)